Heute erschienen, mein Gastbeitrag für das Onlinemagazin Good Impact zum Thema „Nachhaltige Kleidung“, hier zum Nachlesen:
Willkommen im System der kollektiven Verdrängung
Wir sind die aufgeklärtesten Konsumenten aller Zeiten. Warum sind wir dann so träge? Ein Gastbeitrag
Wer sich wie wir bei Coromandel tagtäglich mit nachhaltigen Themen auseinandersetzt und darüber schreibt, braucht eine recht hohe Frustrationstoleranz, sonst würde man wahrscheinlich schnell vor Wut in die Tischkante beißen. Im Wochenrhythmus erreichen uns Meldungen über neue Skandale und aufgedeckte Sauereien, seien es Lebensmittel, Spielzeug, Elektrogeräte oder Kleidung.
Kein Bereich des Lebens scheint nicht früher oder später von den schädlichen Folgen eingeholt zu werden, die aus dem kurzsichtigen Gewinnstreben von Unternehmen oder der Gier Einzelner geboren werden. Gerade jetzt veröffentlicht Greenpeace unter dem Titel „Kleine Monster im Kleiderschrank“ eine neue Studie, laut der in vielen Kinderklamotten giftige Chemikalien enthalten sind – wir haben es alle irgendwie geahnt, aber der nächste Skandal ist da.
Warum gelingt es uns als Gesellschaft nicht, aus diesem ewig wiederkehrenden Drama auszubrechen? Müssten wir die ritualisierte Empörung nicht irgendwann leid sein, die sich bei jedem aufgedeckten Fall von misshandelten Tieren, toten Textilarbeitern oder Giften im Essen wie eine Welle erhebt, um dann eben so schnell wieder in sich zusammenzufallen? Es fühlt sich ein bisschen an, als wären wir als Gesellschaft gefangen in einer Zeitschleife, wie der Wetteransager Phil Connors im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. In den meisten Fällen, in denen jemand Schindluder mit Mensch, Tier oder Umwelt treibt und laut „Skandal!“ gerufen wird, gibt es drei Parteien, die für eine Lösung des Missstands Verantwortung tragen: die beteiligten Unternehmen, die Politik und wir als Konsumenten. Nicht immer fällt allen dreien das gleiche Maß an Verantwortung zu, mal ist eine Seite eher in der Pflicht als andere, in der Regel können jedoch alle drei etwas dazu beitragen, dass bestehende Probleme abgestellt werden.
Das ist erst mal eine gute Nachricht, denn wir als Verbraucher haben einen Einfluss auf das, was um uns herum geschieht, wir sind nicht etwa ein Spielball der bösen Unternehmen oder der unfähigen Politik, wie oft geschimpft wird. An dieser Stelle soll kein Appell an Unternehmen und Politik folgen, doch bitte etwas gegen die Ungerechtigkeit der Welt zu tun. Vielmehr interessiert mich die Frage, warum wir als Konsumenten so träge und geduldig sind und trotz des geballten Wissens über die drängenden Probleme um uns herum wie treues Kaufvieh immer wieder zur bitteren Tränke rennen – scheinbar gänzlich arglos. Ein wesentlicher Teil der Antwort ist, dass wir gemeinsam in einem System der kollektiven Verdrängung leben.
Ja, wir alle wissen, dass Tiere für die Herstellung von Kleidung mit Angorabesatz gequält werden, dass in Bangladesch marode Textilfabriken wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen, während in ihnen Klamotten für die Textilketten unserer Innenstädte zusammengenagelt werden. Wir wissen, dass irgendwo auf der Welt jemand wahrscheinlich nicht von seiner Arbeit leben kann, wenn wir ein T-Shirt für 5 Euro kaufen. Wir wissen das alles, und noch viel mehr, es ist in einem Bereich unseres Gehirns gespeichert und löst bei den meisten von uns echtes Mitgefühl aus, wenn wir die Bilder vom nächsten Skandal betrachten.
Trotzdem sind viele von uns in der Lage, dieses Wissen zu verdrängen, wenn es ums Handeln geht, ganz konkret, beim Einkauf im grauen Winter zwischen Wanne-Eickel und Cottbus. Die Bilder sind da, und wir alle wissen, dass etwas gewaltig schief läuft, wenn Menschen rund um die Uhr schuften und am Existenzminimum leben, damit wir unser neues T-Shirt nach ein paar Monaten wegschmeißen können, weil es so schön billig war. Und trotzdem verdrängen wir die Missstände, erleichtern unser Gewissen mit einem „Was kann ich als Einzelner schon ausrichten?“ oder einem „Nur weil ich dieses Mal das billige Shirt kaufe, wird nicht gleich die Welt untergehen“. Stimmt, die Welt wird nicht gleich untergehen. Aber sie wird auch nicht besser, stattdessen dreht sich das Skandal-Karussell weiter und beim nächsten Fall von Ausbeutung oder Umweltzerstörung werden wir wieder kollektiv erstaunt sein, wie es dazu kommen konnte.
Dabei ist es gar nicht so schwer, seinen Teil zum großen Puzzle einer besseren Welt beizutragen. Man muss als Konsument informiert sein und nach seinen Möglichkeiten bewusst entscheiden, was man kauft und was nicht. Das ist mitunter anstrengend, leistet aber einen wichtigen Beitrag. Was heißt das im Fall von Kleidung? Am besten nicht die Produkte kaufen, die massenweise für ein paar Euro beim nächsten Textildiscounter hängen, hier ist die Chance groß, dass Mensch, Tier oder Umwelt Schaden zugefügt wurde. Stattdessen beim Kauf auf Textil-Siegel achten, z. B. vom Internationalen Verband der Naturtextilwirtschaft (IVN) oder vom Global Organic Textile Standard (GOTS). Das kostet vielleicht ein paar Euro mehr, aber das sollte uns der Ausstieg aus der Zeitschleife wert sein.
Dr. Kai Weinrich ist Geschäftsführer von Coromandel – Nachhaltige Klamotten mit Haltung.