Vorrücken der Miliz „Islamischer Staat“ heizt Debatte in Deutschland an

Die militärischen Erfolge der in den Medien meist als Terrormiliz Islamischer Staat oder „ISIS“ bezeichneten Gruppe, die auf dem Gebiet des Iraks und Syriens ein Kalifat nach uralten islamischen Traditionen errichten wollen, stellt die deutsche Gesellschaft und mit ihr die politische Führung vor ein Dilemma. Nein, eigentlich sind es gleich zwei Dilemmata, nämlich erstens die Frage, ob Waffenlieferungen in Krisengebiete generell zu rechtfertigen sind, und zweitens, ob speziell Deutschland sich an Waffenlieferungen in Krisengebiete beteiligen darf.

Positionen reichen von absolutem Gewaltverzicht bis zu direktem militärischen Eingreifen

In den letzten Monaten konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Deutschen von Spitzenpolitikern wie Joachim Gauck oder Ursula von der Leyen langsam auf eine neue Rolle in der Welt vorbereitet werden sollten. Gemäß unserem Einfluss und wirtschaftlicher Stärke müssten wir nun, nach Jahrzehnten der mehr oder weniger großen Zurückhaltung hinsichtlich militärischer Einsätze im Ausland, bereit sein, uns mehr für Frieden und Freiheit in der Welt zu engagieren, wenn es sein muss auch mit militärischer Gewalt.

Doch der brutale Vormarsch der Miliz Islamischer Staat, deren Anhänger im Irak gerade nach Lust und Laune Menschen erschießen, köpfen, foltern, steinigen und zu tausenden in die Wildnis verjagen, wenn sie nicht bereit sind, ihre Auslegung des islamischen Glaubens zu akzeptieren, zeigt, dass die gesellschaftliche Diskussion über die Rolle Deutschlands noch am Anfang steht. Während am einen Ende des Debattenkontinuums die Theologin Margot Käßmann trotz der Gräueltaten des Islamischen Staats im Pazifismus und der Abschaffung der Armee den richtigen Weg in die Zukunft sieht, sieht der konservative SPON-Kolumnist Jan Fleischhauer in den Taten der ISIS-Terroristen das Böse selbst am Werk, dem mit Pazifismus und Appeasement nicht zu begegnen ist, da es dem Rationalen weitgehend entzogen ist: „Die Gewalt ist das Medium, durch das er zu sich selbst spricht, an ihren destruktiven Energien lädt er sich auf, und die Demütigung und Vernichtung ihrer Opfer ist das Mittel zu diesem Zweck. Das macht ihn so unbegreiflich für alle, die ihren Lebensunterhalt mit dem empathischen Zugang zum Mitmenschen verdienen. Für den Dialog, den sie ihm anbieten, hat er nur ein Achselzucken übrig. Im besten Fall ist das Angebot Zeitverschwendung, im schlechten stachelt es ihn auf. “

Gerade nach den Bildern, die man im Internet über die Taten der Terroristen des Islamischen Staats sehen kann, nach dem kurz bevorstehenden Völkermord an den im Irak lebenden Jesiden, die nur ihres Glaubens wegen ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht abgeschlachtet worden wären, kann ich mir nicht vorstellen, dass in naher Zukunft ein grundsätzlicher Gewaltverzicht gegenüber jeglicher Vorgänge in anderen Ländern eine Option für europäische Politik darstellt. Würden wir tatsächlich zuschauen wollen, wie im Irak und Syrien ein Kalifat nach mittelalterlichem Vorbild errichtet wird, während tausende Andersgläubige von den Islamischer Staat-Anhängern brutal ermordet oder vertrieben werden?

Islamischer Staat: Politik wird wohl zu einem neuen Verständnis deutscher Außenpolitik kommen

Auch in der Bundespolitik herrscht bislang noch Uneinigkeit, die Meinungen zum Umgang mit der Gruppe Islamischer Staat gehen auseinander und führen zu immer neuen Bewertungen der Lage, die dann wieder von anderer Seite eingefangen wird. Dem bisher gültigen Leitsatz, dass Deutschland keine Waffen in Krisengebiete liefere, wird angesichts der Bilder aus dem Irak und Syrien nicht mehr ohne Weiteres gefolgt, das haben von der Leyen und Gabriel schon angedeutet, im Einzelfall kann man sich offensichtlich auch Waffenlieferungen vorstellen, die den Vormarsch des Islamischen Staats stoppen – wenn auch nur in Form eines europäischen Vorgehens. Gregor Gysi, dessen Linkspartei sich seit Jahren offensiv gegen jede Form der militärischen Auseinandersetzung sperrt, kann sich auch Waffenlieferungen vorstellen, wurde dafür allerdings schon von anderen Parteigrößen abgewatscht.

Nun haben erst mal die USA, die am derzeitigen Zustand der Region wesentlichen Anteil haben, die Führung übernommen und offenbar durch Luftschläge, Nahrungsmittel- und Waffenlieferungen den weiteren raschen Vormarsch der Anhänger der Miliz Islamischer Staat verhindert. Wir werden sehen, zu welcher Bewertung der Lage die Europäer und speziell die Deutschen in den kommenden Wochen kommen – und welche Veränderung der deutschen Rolle in der Welt sich hieraus vielleicht ergibt.